«Öffentlich», so stehts im Wörterbuch, heisst «allgemein,
allen zugänglich, für alle bestimmt». Kunst richtet sich – wie
zurückhaltend auch immer – an eine Öffentlichkeit. Die
Ausstellung PUBLIC AFFAIRS zeigt Werke, die diesen Sach-
verhalt betonen und beleuchten. Werke auch, die den Begriff
des Öffentlichen in die Kunst tragen, ihn thematisieren, seine
wandelnde Bedeutung und Gestalt analysieren sowie seine
Reichweite ausloten.
Als Joseph Beuys 1964 seinen Slogan «Das Schweigen
von Marcel Duchamp wird überbewertet» in die Welt setzte,
machte er deutlich, dass selbst das Verstummen in der Kunst
eine höchst öffentliche Affäre sein kann.1
Die Kunst erlebte in den 60er Jahren einen expansiven
Aufbruch, der den Blick und die Energien aktiv auf die
Gesellschaft und damit auch auf das komplexe Feld lenkte,
welches die Öffentlichkeit darstellt. Heute ist dieser Blick
von einer jüngeren Generation als aktuell und brisant wieder
entdeckt worden, deren Bestrebungen und Erforschungen
jedoch dahin zielen, das heroisch Partikulare einer individua-
l i s tisch definierten Kultur abzustreifen, um ihre Gesten
vielmehr aus einer wie immer definierten Kollektivität heraus
entstehen zu lassen. Gerade von Beuys, der so abgehoben
von der modernen Massenkulturschien, und doch deren Medien
sehr genau für seine Zwecke einzusetzen wusste, ist im
Übrigen überliefert, dass er 1965 in seine Taschenagenda die
erstaunliche Bemerkung notiert hat: «Das Lachen der Beatles
gilt mehr als die Anerkennung von Marcel Duchamp.»2
Selbst das Museum ist sich heute stärker seiner para-
doxen Rolle bewusst, gleichzeitig ein Ort zu sein, der das
intime Zwiegespräch mit dem Werk ermöglicht, und ein Ort,
der die Kunst ins Licht der grossen Öffentlichkeit zu rücken
versteht. Im Kunsthaus breitet sich die Ausstellung in Teilen
der Sammlungsräume aus. Der Zugang führt an Hodlers
Monumental-Gemälden «Die Einmütigkeit», 1913, und «Der
Rückzug von Marignano», 1897, vorbei, zwei imposante
Beispiele einer uns heute fremd gewordenen Überhöhung des
kollektiven Willens und der gemeinschaftlichen Leistung.
Was ist Öffentlichkeit? Welches Potential bietet sie der
Kunst? Und umgekehrt: Wie relevant erscheint die Kunst
in den Augen der Gesellschaft? Diese Fragen scheinen in der
Gegenüberstellung der Werke, die rund fünfzig bis hundert
Jahre später als die Hodler-Gemälde entstanden sind, immer
wieder auf. In «Public Affairs» geht es weniger um die in den
letzten Jahrzehnten viel diskutierte Rolle der Kunst im
öffentlichen Raum, sondern eben um «die Öffentlichkeit» als
ein oft nur implizites und gleichwohl wichtiges Thema der
Kunst.3
In ihnen – in der Öffentlichkeit wie auch in der Kunst–
sind Konventionen, Regeln, die von einer Allgemeinheit
respektiert und aufrecht erhalten werden, von zentraler Bedeu-
tung. Ben Vautier schrieb 1959 auf eine kleine schwarze
Leinwand «Liberté», ein provokativer Hinweis aufdie zugleich
einschränken den wie auch Freiheit ermöglichenden Konven-
tionen des Tafelbildes und der Kunst, oder 1971 die wiederum
gemalte Deklaration «L’art est inutile, rentrez chez vous»,
die mit den Erwartungen des Publikums spielt. Das zielte da-
mals aber vor allem auch auf den Widerspruch zwischen
Kunst und Leben hin.
Das Abmessen eines enormen kulturellen Wandels
macht der Film «Meat Joy», 1963, von Carolee Schneemann
deutlich, eine mythisch feierlich-fröhliche Aktion, welche
kollektive Sinneslust gegen oppressiv gewordene Konventio-
nen der Gesellschaft setzt. Ein frühes Dokument einer Zeit,
da die Aktions-Kunst noch vorwiegend männlich geprägt war,
welches das Befreiungspathos der Frauen (und Männer) in
einer Art Vorahnung «vorwegzuträumen» scheint.
Bald ist die Strasse der Ort, wo die Kunst empirisch
neue spielerische Situationen schafft. Yoko Ono befragt 1971
die Menschen vor dem MoMA, was sie von ihrer «one woman
show» in diesem Museum hielten – ein (wie hätte es damals
anders sein können?) fiktives Ereignis. Frauen beginnen
ebenso die sozusagen feinstofflichen Konditionierungen einer
von Männern «gebauten» Welt zu untersuchen, gerade so,
wie es Valie Export in verblüffender Knappheit in den «Körper-
Konfigurationen» von 1972–76 festhält, in Photos einer
einsam und horizontal im öffentlichen Raum ausgestreckten
Frau, die absurde Anschmiegungen an machtbewusste Archi-
tekturelemente vorführt. Seit den 70er Jahren fanden explizite
Symbole des Öffentlichen wie etwa Glas- und Stahlkonstruk-
tionen, das Serielle urbaner Lebensmuster(beiDan Graham,
in neuerer Zeit bei Liam Gillick), städtische Bewegungs-
muster, Fassaden (bei Sarah Morris),zivile Schutzabschran-
kungen (bei Fabrice Gygi) und das Bauen als männliche
Tätigkeit (beiMonica Bonvicini) Einlass in die Kunst, um
zugleich die grossen abstrakten Strukturen und Codes unserer
Gesellschaft zu thematisieren.
Gilbert & George, verkörpern in ihrem über dreissig-
jährigen Projekt der «Living Sculpture» in provozierender
Verdoppelung den anonymen Einzelnen im urbanen Menschen-
strom. Als solche machten sie sich auch zum konstituierenden
Element einer neuen Bildsprache, einer Art zeitgenössischen
Lebens-Heraldik.
DerBlick für Randständige, wie sie sich den Passanten
in der Strasse darbieten, treibt Thomas Hirschhorns Werk an
und dessen präzise Ästhetik der «Schwäche», des Hinfälligen
und Prekären. Zu ihr gehört das Meer von Zeitungsaus-
schnitten, der Informationsstrom, der auf Horror, Tragik und
Unrecht hinweist. Hirschhorn ist durch Warhols Bild «129 Die
in Jet» (1962) zum Künstlersein bewegt worden4, das Bild,
das die Titelseite einer Zeitung zeigt.
Kaum etwas vermag Öffentlichkeit besser zu symboli-
sieren als die Zeitung und das Fernsehen. 1996 hat Keith
Tyson an einem frühen Morgen an allen Kiosken einer grossen
Londoner U-Bahn-Station alle Zeitungen eines Tages aufge-
kauft, um sein «Monument to the Present State of Things»,
2000, zu schaffen.
Die kanadische Künstlergruppe mit dem sprechenden
Namen General Idea begann in den 70er Jahren eine künstle-
rische Parodie auf «Life», das populärste der damaligen
Magazine, zu publizieren, das sie «File» nannte. Und im Video
«Test Tube», von 1979, nehmen sie in reflektierter Leichtig-
keit die neue, farbig gewordene Fernsehwirklichkeit unter die
Lupe. Später, Ende der 80er Jahre, liessen sie Briefmarken
und Posters zirkulieren, auf welchen sie, das berühmte und
milliardenfach reproduzierte Bild von Robert Indiana persiflie-
rend, die Lettern LOVE mit AIDS vertauschten.
1998 hat Maurizio Cattelan ein markantes Objekt für
das Zeitalter der «Globalinformation» mit dem Titel «If a Tree
Falls in the Forest and There Is No One Around It, Does It
Make A Sound?» geschaffen. Ein mit einem Fernsehapparat
beladener, ausgestopfter Esel als Philosoph, der uns die Kunde
unserer beschränkten Wirklichkeitsauffassung ins Museum
bringt.
Kunstwerke haben immer wieder Skandale ausgelöst. In ihrer
Stossrichtung und Wirkung sind die heutigen Skandale nicht
zu vergleichen mit den «Grenzüberschreitungen» früherer
Generationen. Als Beispiel sei etwa Jenny Holzers Beitrag für
das Magazin der Süddeutschen Zeitung erwähnt. Dort nahm
sie, es war im Jahre 1993, Bezug auf die Greueltaten des
Krieges in Bosnien, indem sie den Satz «Da wo Frauen sterben
bin ich hellwach» auf dem Titelblatt mit einem Anteil Blut von
bosnischen Frauen drucken liess. Die gelbe Presse reagierte
mit einem Aufschrei der Entrüstung auf die künstlerische
Intervention, die auf einer Fusion massenmedialer Wirkkraft
und konzeptueller artist book-Praktik beruhte.
Immer mehr entsteht heute Kunst mit ungewöhnlich
formuliertem Allgemeinheits-Anspruch oder Kunst, die
Potentiale der Breitenwirkung an überraschenden Orten ent-
deckt und sie überdies auch in sich selber erforscht. Heute
stellen Künstler wie der Schweizer Peter Regli, der gerne hin-
ter seinen Aktionen in der Anonymität verschwindet5, ihre
Werke auch auf ihrer Website einem breiteren Publikum vor,
so empfehlen wir www.realityhacking.comund
www.pipilottirist.net.
Das Aufbrechen von Konventionen der Wahrnehmung
war schon immer eine besondere Aufgabe der Kunst. Nun
tun sie es in einer Wirklichkeit, deren fiktionaler Anteil mit der
Digitalisierung der Welt enorm zugenommen hat. Gerade in
der Mediengesellschaft, in einer Welt, in der die Kameras
in die kleinsten Ritzen dringen, entstehen Werke, welche auch
aufzeigen, wie die Grenzen zwischen öffentlich und privat
fliessend geworden sind. So hat Pipilotti Rist 1993 in
«Eindrücke verdauen» einen runden Monitor in eine Damen-
badehose gesteckt, damit durch das Textil hindurch eine
endoskopische Fahrt durch die Eingeweide verfolgt werden
kann. Im Videofilm «Create Problems» von 1999 inszeniert
Christian Jankowski in einer zwischen real und fiktiv
oszillierenden Rahmenhandlung in einem Pornofil mst udio
Rollenspiele mit Paaren, welche Konfliktsituationen ihrer
eigenen Zweierbeziehung nachspielen.
In den vergangenen Jahren suchten Künstlerinnen und
Künstler vermehrt in spielerischen Handlungen das Publikum
eindringlicher zu umgarnen oder zu irritieren, indem sie
begannen neue Zwischenräume im Gefüge der Alltäglichkeit
kreativ auszuloten. Mit künstlerischen Mitteln erinnern sie
daran, dass der Mensch ein kollektives Wesen ist und «die Öffent-
lichkeit» ein stets sich wandelndes Gut.
FERDINAND HODLER
EINMÜTIGKEIT, ZWEITE FASSUNG, 1913
Öl auf Leinwand
314 X 1000cm
Was die Situationisten in den 60er Jahren als »Détournement»
bezeichneten, findet sich heute in vielen künstlerischen
Gesten, so etwa in Denis Beaubois pantomimischer Einlage
vor einer Überwachungskamera einer Firma: einer aber-
witzigen Parabel über das Individuum im Griff und im «Aus-
tausch» mit den anonymen «öffentlichen Mächten».
Wie anders die heutige «Aktionskunst» im Vergleich
mit jener der Pioniergeneration der 60er Jahre im Kern ist,
vermag auch das Bild des an den Füssen der Nachrichten-
sprecherin schlafenden San Keller aufs Beste zu verdeutlichen.
Wenn Dieter Meier 1971 noch in einer Art ironisch-materia-
listischen Duchamp-Paraphrase mit Aufrufen im Tram und mit
Strassenplakaten Geld sammelte, damit «sein Kunstwerk
existiere»6, so verteilt San Keller, in dessen Aktionen Geld
häufig eine Rolle spielt, am Ende einer Wanderung die Münzen
in seinem Rucksack: denjenigen, die ihm bis zum Schluss
gefolgt sind7. Mit einer Haltung, die Züge Robert Walserscher
Demut annimmt, bietet Keller Kunst als gemeinsames
bedeutsames Erlebnis an.
Ein Raum der Ausstellung gibt Einblick in das Werk
des graphischen Gestalters Cornel Windlin (geboren 1964);
seine Plakate, Kataloge, Bücher, Flyers und andere
graphischen Objekte, die mit intelligenten und humorvollen
Strategien die eigenen Konventionen als Kommunikations-
instrument in grosser Autonomie mit zu reflektieren scheinen
( www.lineto.com). Hier wird deutlich, wie sich «Kunst»
und «Gestaltung» vor je verschiedenen Traditionshintergründen
auf das gleiche Terrain begeben, um an gleichen «Schnitt-
stellen» zu operieren.
Im Englischen und im Französischen ist public mit einem
Doppelsinn behaftet. Es umschreibt gleichzeitig «das Öffent-
liche» und «das Publikum» – das Weitgefasste und eine
Einheit. Ein Hinweis auch, dass die eine, grosse Öffentlichkeit
unfassbar ist und diese aus unfassbar vielen verschiedenen
Öffentlichkeiten besteht. Diese vermischen sich zuweilen –
oder verhalten sich wie Öl und Wasser. Richteten sich die
frühen expansiven Kunstbestrebungen, die den abgeschirmten
«Raum der Kunst» verliessen, noch betont an eine «Kunst-
öffentlichkeit», so ist das «Ausbrechen» daraus für eine jüngere
Generation das tragende Motiv geworden. 1980 gelang Laurie
Anderson in dieser Hinsicht etwas Richtungsweisendes, als
ihr Lied «O Superman», das für ein so genannt elitäres Kunst-
publikum konzipiert war,8den Sprung in die Hitparade, also
in die Massenkultur der Popmusik schaffte.
Wenn das Thema einer Ausstellung sozusagen «alle»,
«die Allgemeinheit», beinhaltet, sind auch alle Angespro-
chenen Experten im Fach «Öffentlichkeit». Oder anders
gesagt, jede und jeder kommt darin vor. Und so lag es auch
nahe, für den Katalog eine Anthologie aus Interviews9
zusammenzustellen, eine Form, in welcher die Künstlerinnen
und Künstler direkt zur Öffentlichkeit reden.
1Die gleichnamige Aktion ist auf Marcel Duchamp gemünzt, der damals die Fluxus- und
die «Neo-Dada-Szene» rege beschäftigte, sich der Kunst verweigerte und nur noch
Schach spielte. Beuys kritisierte somit die elitäre Antikunsthaltung, um gleichzeitig seinen
Anspruch auf gesellschaftliche Wirksamkeit und seinen «anthropologischen» Kunstbegriff
zu demonstrieren. Siehe Uwe M. Schneede, Joseph Beuys, Die Aktionen, Ostfildern-Ruit,
1994, S.81/82.
2A. a. O., S. 82.
3Selbstverständlich lässt sich hier keine klare Trennlinie ziehen. Gerade auch, weil das,
was mit gewisser Objektbezogenheit im Bereich «Kunst im öffentlichen Raum» seit
«Skulpturprojekte Münster» (19 8 7) entwickelt wurde, sich aus den viel früher einsetzenden,
hier beschriebenen Bestrebungen und Aktionen verstehen lässt, die unter dem Stichwort
«Experiment der Interaktion zwischen Kunst und Umgebung» zu subsumieren sind.
4In: «Striving to Be Stupid», Alison Gingeras in Conversation with Thomas Hirschhorn,
Katalog Chisenhale Gallery London, 1998, S.2.Hirschhorn beschreibt, wie dieses
Gemälde schlagartig seine Meinung, Kunst sei für Engagement ungeeignet, geändert habe.
Durch dieses Werk habe er begriffen, «dass Kunst etwas auslösen» könne.
5Im Vorfeld der Ausstellung strengte Regli Vorbereitungen an, um den in der Schweiz
legendären «Roten Pfeil», einem Prestige-Objekt der Landesausstellung 1939, an einem
bestimmten Augustabend als leere, aber im Innern grün beleuchtete Zugskomposition
durch die Landschaft fahren zu lassen.
6Eine Summe von Fr.10000.–sollte zusammenkommen, damit dasKunstwerk existiere.
Das Ziel wurde aber um Fr. 4828.11verfehlt, und das Geld zurückerstattet. Siehe: Dieter
Meier, Gesamtausgabe Band1, 26 Werke, 1969–1974, Zürich 1974, S.22.
7«San Keller teilt mit Ihnen 1000Schweizer Franken», Aktion vom 16. 3.2002.
8Als Teil der multimedialen Performance «United States», die sie in Kunsthallen und
Museen aufführte. Laurie Anderson vertraute auf Ausdrucksmittel, die sich auf Elemente
der Massenkultur stützten.
9Dort, wo kein Interview zur Verfügung stand, erscheint nun ein anderes Textzitat.
SAN KELLER SCHLÄFT AN IHREM ARBEITSORT, AB 2000
Auftrag Nr. 3, Redaktion «10vor 10», SF DRS
14. Juli2000, 14:00–22:30