1979 stellte ich meine erste Arbeit vor, die aber nur in Form
eines Buches präsentiert worden ist. Ich war nach einer sie-
benjährigen Reise nach Frankreich zurückgekehrt. In Paris
angekommen, fühlte ich mich in meiner eigenen Stadt
völlig verloren. Ich wollte nicht mehr, wie früher, bestimm-
ten Dingen nachgehen. Andererseits war mir völlig unklar,
wie ich meinem täglichen Leben einen Sinn geben könnte,
also beschloss ich, Passanten auf der Strasse zu beschatten.
Ich tat dies einzig und allein aus dem Grund, weil mir
die Fähigkeit abhanden gekommen war, mich in meinem
eigenen Alltag zu orientieren. Ich wollte mir auf diese
Weise die Energie und die Fantasie irgendwelcher fremder
Menschen zunutze machen, um einfach das zu tun, was sie
gerade taten. Ich machte keine Fotos oder Aufzeichnungen.
Ich überlegte mir nur jeden Morgen, dass ich diesen Frem-
den folgen und sie dann über den Verlauf meines Tages
entscheiden lassen würde, da ich allein nicht mehr dazu in
Nachdem ich mich einige Monate damit beschäftigt hatte,
merkte ich, was für ein grosses Vergnügen es mir bereitete,
gleich einem Schatten in das Leben unbekannter Menschen
einzudringen, ohne ein einziges Wort mit ihnen zu reden.
Eines Tages ging ich einem dieser Unbekannten nach,
einem Mann, und zufälligerweise wurde er mir am gleichen
Abend vorgestellt. Ich habe das als Zeichen aufgefasst, dass
ich ihm auf der Spur bleiben sollte. Wann immer ich ihn
erspähte, hielt ich mich in seiner Nähe auf, belauschte seine
Gespräche. An jenem Abend erzählte er mir von seiner
bevorstehenden Reise nach Venedig. Ich fuhr ihm nach und
verfolgte ihn zwei Wochen lang durch die Stadt. Ich machte
überall Aufnahmen von ihm. Er war selbst Fotograf und
ich versuchte, in einer Art Verdoppelungsverfahren, solche
Bilder herzustellen, die er möglicherweise machen würde.
Aus dieser Geschichte entstand mein BuchSuite vénitienne,
in dem es um die Beziehung zwischen mir und diesem
Meine nächste Arbeit trug den TitelDie Schläfer.Das Ge-
meinsame zwischenSuite vénitienne und dieser Arbeiist
die Tatsache, dass ich mich damals nicht als Künstlerin
verstand. Es war nur eine Art Spiel für mich, um der Lange-
weile zu entfliehen. Für meine ArbeitDie Schläferhatte
ich mir vorgenommen, mein Bett rund um die Uhr mit
einem Menschen zu belegen, also forderte ich Wildfremde
dazu auf, in meinem Bett zu schlafen. Sie sollten acht Stun-
den darin verbringen und vom nächstfolgenden Schläfer
geweckt werden, und so fort, acht Tage lang. Für die Tages-
schicht suchte ich mir Personen aus, die normalerweise
am Tag schlafen, etwa Bäcker. Ich beobachtete die Schläfer
die ganzen acht Tage lang, jede Stunde machte ich eine
Aufnahme von ihnen und schrieb alles auf, was sie mir er-
zählten. Mit diesen Interviews wollte ich nicht in ihre
Intimsphäre eindringen, sondern eine Verbindung zu ihnen
herstellen, bei der eine Distanz gewahrt blieb, die sich auf
einer neutralen Ebene bewegte. Der Text ist eine Form,
mit jemandem in Kontakt zu treten, ohne allzu intim mit
Eine meiner Arbeiten war für die Zeitung Libération («Der
Mann mit dem Adressbuch», 1983). Mir wurde für einen
ganzen Sommer lang eine Kolumne angeboten, in der ich
schreiben konnte, was ich wollte. Ich machte mich auf die
Suche nach einem Projekt, bei dem es um eine Art Fort-
setzungsbericht gehen sollte, so wie es die Zeitungen früher
brachten. Vor kurzem hatte ich zufällig ein Adressbuch auf
der Strasse gefunden. Ich machte eine Fotokopie davon und
schickte es dem Besitzer zurück. Dann suchte ich alle Per-
sonen auf, die in dem Adressbuch standen und bat sie, mir
etwas von dem Mann zu erzählen, um anhand der verschie-
denen Aussagen ein Porträt von ihm zu zusammenzufügen,
wie bei einem Puzzlespiel. Bei meiner Recherche traf ich
auf Leute, die den Mann bereits seit fünf Jahren nicht mehr
gesehen hatten und sich nur vage an einige seiner persön-
lichen Angewohnheiten erinnerten. Manchmal wurde ich
mit ganz direkten Informationen konfrontiert und die Leute
erzählten mir die intimsten Details über ihn. Ich begegnete
auch engsten Freunden, die sich weigerten, irgendetwas
von ihm preiszugeben. Sie machten nur ganz allgemeine
Aussagen, wie etwa darüber, was er gerne ass oder über
welche Witze er lachte. Alle diese unterschiedlichen Wege,
sich seiner Person anzunähern, versuchte ich fotografisch
nachzuvollziehen. Wenn einer der Befragten mir sagte, der
Mann würde bei ihm gerne auf einem gewissen Sessel Platz
nehmen, bemühte ich mich, genau dieses Bild einzufangen.
Sophie Calle über ihre Arbeit aufgrund eines Gesprächs mit Bice Curiger. In: Searle,
Adrian (Hrsg.). Talking Art 1. London (ICA Documents) 1993, S. 29–30, 33–34.
DIE ENTFERNUNG– THE DETACHMENT,
1996
12Farbfotografien auf Aluminium,
12Bücher
«DDR Emblem (Palast der Republik)»,
120 X 90cm
«Friedenstaube, Nikolaiviertel»,
120 X 90cm
«Lenin-Denkmal», 120 X 90cm
«Kampfgruppendenkmal», 75 X 100cm
In Berlin sind zahlreiche Symbole der
Ex-DDR entfernt worden. Sie haben Spuren
hinterlassen. Ich habe diese Abwesenheit
photographiert und die Passanten gebeten,
mir ihre Erinnerungen zu beschreiben.
S. C.