IMAGE calle_sophie01.gif

28

IMAGE calle_sophie02.gif

1979 stellte ich meine erste Arbeit vor, die aber nur in Form

eines Buches präsentiert worden ist. Ich war nach einer sie-

benjährigen Reise nach Frankreich zurückgekehrt. In Paris

angekommen, fühlte ich mich in meiner eigenen Stadt

völlig verloren. Ich wollte nicht mehr, wie früher, bestimm-

ten Dingen nachgehen. Andererseits war mir völlig unklar,

wie ich meinem täglichen Leben einen Sinn geben könnte,

also beschloss ich, Passanten auf der Strasse zu beschatten.

Ich tat dies einzig und allein aus dem Grund, weil mir

die Fähigkeit abhanden gekommen war, mich in meinem

eigenen Alltag zu orientieren. Ich wollte mir auf diese

Weise die Energie und die Fantasie irgendwelcher fremder

Menschen zunutze machen, um einfach das zu tun, was sie

gerade taten. Ich machte keine Fotos oder Aufzeichnungen.

Ich überlegte mir nur jeden Morgen, dass ich diesen Frem-

den folgen und sie dann über den Verlauf meines Tages

entscheiden lassen würde, da ich allein nicht mehr dazu in

der Lage war.

Nachdem ich mich einige Monate damit beschäftigt hatte,

merkte ich, was für ein grosses Vergnügen es mir bereitete,

gleich einem Schatten in das Leben unbekannter Menschen

einzudringen, ohne ein einziges Wort mit ihnen zu reden.

Eines Tages ging ich einem dieser Unbekannten nach,

einem Mann, und zufälligerweise wurde er mir am gleichen

Abend vorgestellt. Ich habe das als Zeichen aufgefasst, dass

ich ihm auf der Spur bleiben sollte. Wann immer ich ihn

erspähte, hielt ich mich in seiner Nähe auf, belauschte seine

Gespräche. An jenem Abend erzählte er mir von seiner

bevorstehenden Reise nach Venedig. Ich fuhr ihm nach und

verfolgte ihn zwei Wochen lang durch die Stadt. Ich machte

überall Aufnahmen von ihm. Er war selbst Fotograf und

ich versuchte, in einer Art Verdoppelungsverfahren, solche

Bilder herzustellen, die er möglicherweise machen würde.

Aus dieser Geschichte entstand mein BuchSuite vénitienne,

in dem es um die Beziehung zwischen mir und diesem

Mann geht.

Meine nächste Arbeit trug den TitelDie Schläfer.Das Ge-

meinsame zwischenSuite vénitienne und dieser Arbeiist

die Tatsache, dass ich mich damals nicht als Künstlerin

verstand. Es war nur eine Art Spiel für mich, um der Lange-

weile zu entfliehen. Für meine ArbeitDie Schläferhatte

ich mir vorgenommen, mein Bett rund um die Uhr mit

einem Menschen zu belegen, also forderte ich Wildfremde

dazu auf, in meinem Bett zu schlafen. Sie sollten acht Stun-

den darin verbringen und vom nächstfolgenden Schläfer

geweckt werden, und so fort, acht Tage lang. Für die Tages-

schicht suchte ich mir Personen aus, die normalerweise

am Tag schlafen, etwa Bäcker. Ich beobachtete die Schläfer

die ganzen acht Tage lang, jede Stunde machte ich eine

Aufnahme von ihnen und schrieb alles auf, was sie mir er-

zählten. Mit diesen Interviews wollte ich nicht in ihre

Intimsphäre eindringen, sondern eine Verbindung zu ihnen

herstellen, bei der eine Distanz gewahrt blieb, die sich auf

einer neutralen Ebene bewegte. Der Text ist eine Form,

mit jemandem in Kontakt zu treten, ohne allzu intim mit

ihm zu werden.

[...]

Eine meiner Arbeiten war für die Zeitung Libération («Der

Mann mit dem Adressbuch», 1983). Mir wurde für einen

ganzen Sommer lang eine Kolumne angeboten, in der ich

schreiben konnte, was ich wollte. Ich machte mich auf die

Suche nach einem Projekt, bei dem es um eine Art Fort-

setzungsbericht gehen sollte, so wie es die Zeitungen früher

brachten. Vor kurzem hatte ich zufällig ein Adressbuch auf

der Strasse gefunden. Ich machte eine Fotokopie davon und

schickte es dem Besitzer zurück. Dann suchte ich alle Per-

sonen auf, die in dem Adressbuch standen und bat sie, mir

etwas von dem Mann zu erzählen, um anhand der verschie-

denen Aussagen ein Porträt von ihm zu zusammenzufügen,

wie bei einem Puzzlespiel. Bei meiner Recherche traf ich

auf Leute, die den Mann bereits seit fünf Jahren nicht mehr

gesehen hatten und sich nur vage an einige seiner persön-

lichen Angewohnheiten erinnerten. Manchmal wurde ich

mit ganz direkten Informationen konfrontiert und die Leute

erzählten mir die intimsten Details über ihn. Ich begegnete

auch engsten Freunden, die sich weigerten, irgendetwas

von ihm preiszugeben. Sie machten nur ganz allgemeine

Aussagen, wie etwa darüber, was er gerne ass oder über

welche Witze er lachte. Alle diese unterschiedlichen Wege,

sich seiner Person anzunähern, versuchte ich fotografisch

nachzuvollziehen. Wenn einer der Befragten mir sagte, der

Mann würde bei ihm gerne auf einem gewissen Sessel Platz

nehmen, bemühte ich mich, genau dieses Bild einzufangen.

[...]

Sophie Calle über ihre Arbeit aufgrund eines Gesprächs mit Bice Curiger. In: Searle,

Adrian (Hrsg.). Talking Art 1. London (ICA Documents) 1993, S. 29–30, 33–34.

IMAGE calle_sophie03.gif

PA_zsd_catalogue.xp28.08.0200:10Seite 28

IMAGE calle_sophie04.gif
IMAGE calle_sophie05.gif
IMAGE calle_sophie06.gif
IMAGE calle_sophie04.gif
IMAGE calle_sophie08.gif
IMAGE calle_sophie05.gif
IMAGE calle_sophie08.gif
IMAGE calle_sophie11.gif
IMAGE calle_sophie12.gif
IMAGE calle_sophie13.gif
IMAGE calle_sophie14.gif
IMAGE calle_sophie01.gif

29

IMAGE calle_sophie16.gif
IMAGE calle_sophie17.gif
IMAGE calle_sophie18.gif
IMAGE calle_sophie19.gif

DIE ENTFERNUNG– THE DETACHMENT,

1996

12Farbfotografien auf Aluminium,

12Bücher

«DDR Emblem (Palast der Republik)»,

120 X 90cm

«Friedenstaube, Nikolaiviertel»,

120 X 90cm

«Lenin-Denkmal», 120 X 90cm

«Kampfgruppendenkmal», 75 X 100cm

In Berlin sind zahlreiche Symbole der

Ex-DDR entfernt worden. Sie haben Spuren

hinterlassen. Ich habe diese Abwesenheit

photographiert und die Passanten gebeten,

mir ihre Erinnerungen zu beschreiben.

S. C.

IMAGE calle_sophie03.gif

PA_zsd_catalogue.xp28.08.0200:10Seite 29

IMAGE calle_sophie04.gif
IMAGE calle_sophie05.gif
IMAGE calle_sophie06.gif
IMAGE calle_sophie04.gif
IMAGE calle_sophie08.gif
IMAGE calle_sophie05.gif
IMAGE calle_sophie08.gif
IMAGE calle_sophie11.gif
IMAGE calle_sophie12.gif
IMAGE calle_sophie13.gif
IMAGE calle_sophie14.gif